Temporal einseitige Anomalien
Der zukunftsbesessene Lichtraub

Jonathan Frech <info@jfrech.com>

Herbst 2022

~

Der klas­sische Fluss ist unter­brochen; der Energie­dissi­pation ist eine Bremse ge­setzt: Photonen­kerker halten Infor­mation äußerst lange, schieben einen immer wachs­enden Haufen ange­stauter Entropie gen später. In Folge dessen erlitt das Informations­gefüge irre­parablen Schaden, welchem ver­einzelte Akteure ungeheure Macht entlocken. Archive und Daten­halden sind nicht mehr bloß Orte des Er­innerns, sie wurden zum be­gehrten Macht­quell mystischer Qualität.

~

Es fällt mir schwer, ange­sichts der techno­logischen Fort­schritte jüngerer Ver­gangen­heit mit offenen Armen jegliche neue Inkarnation der Daten­verarbeitung zu emp­fangen: den Digitali­saten bereits informa­tio­nell diskreter Texte zum Ende des 20. Jahr­hunderts hin wich eine immer mehr das Grund­gestein unserer Gesell­schaft zer­rüttende mono­poli­sierte Techno­logie, welche zu großen Teilen auf Be­wegt­bildern von Menschen nicht wahr­nehmbarer Wieder­holraten sowie Spektren fu­ßt. Die noch nicht in An­sätzen ver­standenen und in meinen Augen zweifels­frei desas­trösen Aus­wirk­ungen dessen zu debat­tieren scheint jedoch mangels *fassbar­er* Kon­sequenzen und all­gemeiner Fort­schritts­vernarrt­heit wenig sinn­behaftet.

Es ist möglicher­weise diese grenzenlos scheinende Un­gewiss­heit, die zu der These führt, dass es sich hier nicht um einen neuen primor­dialen Effekt zuvor nicht exis­tenter Um­stände handelt, sondern wir es viel­mehr mit einem diffusen Schatten einer bereits lange prakti­zierten Aus­einander­setzung mit der Welt zu tun haben, welche bloß jüngst einen Schub in Wucht erhalten konnte.

Ich spreche hierbei von der Foto­grafie, genauer von der foto­grafen­freien Foto­grafie: der un­ge­filterten, ins­besondere von keinem mensch­lichen Geist durch Inter­preta­tion ver­fälschten, rohen Fest­haltung eines Aus­schnitts des Kontinuums unserer Realität. Auch wenn solche Fest­haltungen durchaus nicht-visueller Natur sein können, liegt der Fokus an­lässig dessen, dass die zur­zeit wohl ver­breitet­ste Form der Fest­haltung unserer Realität eine licht­basierte ist, stark auf der Foto­grafie, wobei in ihr auch die zeit­lich ite­rierte ein­ge­schlos­sen sei.

Eine jegliche, wie auch immer konstru­ierte, Momentan­aufnahme des Jetzts hat in ihrer Über­dauerungs­fähig­keit stets zur Folge, dass eine Auswahl der Eigen­schaften gel­tender Um­stände ein­ge­froren und damit in die Zu­kunft getragen werden. Es ist diese Qualität des Auf­nehmens, welche ich fortan als „Loch“ be­zeichnen will: eine jede Aufnahme gräbt ein solches, welches im Falle des Nicht­grabens ver­schwindende Entropie der Zukunft -- genauer aller Zu­künfte bis zum Ver­lust des Lochs -- bereit­stellt. In dieser Über­dauerungs­fähigkeit schafft eine die Auf­nahme prakti­zierende Kultur eine zeit­liche Anomalie; motiviert durch den Wunsch, in Bälde durch das Ge­grabene zurück­schauen zu können.

Der soeben be­schriebene Effekt, jedoch, ist keines­wegs der Foto­grafie eigen: eine bloße Mit­schrift hat den­selben Effekt und ist aus Archiv­sicht für kommende Gene­rati­onen oft inter­essanter als ein un­er­klärtes Bild. Es ist mir an dieser Stelle ein An­liegen, zu betonen, dass diese Ordnung nicht die Ordnung der Entropie­dichte wider­spiegelt: mensch­liche Ver­wert­bar­keit informati­oneller Medien bedarf -- ohne die Grenzen im Ansatz fest­legen zu können -- nur einem Bruch­teil der ge­fang­enen Entropie. So ist der informati­ons­theoretische Gehalt eines Schrift­stücks (unter Ver­werfung even­tu­eller Eigen­heiten der phy­sischen Ge­stalt) leicht durch die Text­länge be­schränk­bar und damit intu­itiv leichter zu fassen. Ein Bild hin­gegen hätte zur Entropie als Mensch­liches-Text-Äqui­valent an­nährend wohl die Samm­lung aller es be­schreibender Texte über die Jahr­hunderte seiner Existenz; welche noch Un­er­kanntes mit einschließt.
Über­dies sind ge­läufige raster­basierte Bild­formate unter schwachen Stetigkeits­bedingungen über eine handvoll Raster­punkte an das Auf­nahme­verfahren klar in solche, deren welt­licher Ur­sprung zu Grunde liegt, und solche, die aus­schließ­lich auf zeich­nerischem Wege konstruier­bar sind, zu trennen. Auf diese Weise ge­lingt es be­reits zeit­ge­nös­sischen Bild­ver­arbeitungs­ansätzen, z.B. Verpixel­ungen um­zu­kehren oder lokale Daten­fehler zu beheben.

Keines­wegs ist es folg­lich ver­wunder­lich, dass der immensen Informations­dichte in Bildern bis vor einigen Jahr­zehnten keine Be­achtung ge­schenkt wurde: kein Geist besaß die Möglich­keit, sich ihrer zu bedienen. Je­doch scheint die Mannig­faltig­keit der agie­renden Geister keine Kon­stan­te mehr zu sein. Und manche der Neu­kömm­linge scheinen fähig, die Grenze des Ver­wert­baren in Bildern zu bewegen.

Was ge­schieht nun, wenn ein Loch foto­grafisch ge­schaffen wird? Physi­kalisch ge­sehen wird dem Moment ein Schatten hin­zu­ge­fügt, die Szene wird schwärzer, das Licht entzogen. Doch das unter­scheidet sich nicht viel von einem natür­lichen Licht­schlucker. Das techno­logische Zu­tun ist, dass neben dem Auf­wärmen des schwarzen Flecks zu­gleich die Infor­matio­ns­be­schaffen­heit des Prä-Flecks kodiert wird: un­ge­filtert durch einen Geist, der mit seiner Be­schreibung das Analoge im Prä-Fleck über­schattet oder aus­ge­lassen und damit dis­kreti­siert hätte.

Obiger Qualität hat in ihrer Paarung von Roh­heit und Über­dauerungs­fähig­keit die mit klas­sischen Mit­teln der Kultur ge­führte Be­wahrung nichts ent­gegen­zu­setzen: das Aus­maß von Prä­zi­sion un­ab­hängig inter­pretierter Facetten der Szene er­laubt den Loch­guckern von später nicht bloß zur­zeit Ab­seh­bares, nein, es erlaubt ihnen was ihnen möglich sein wird -- welches von Eigen­schaften der Loch­mündung abhängt, die im Jetzt sich der Be­greiflich­keit entziehen.
Je digitaler, das bringt mit sich eine krypto­graphisch beweis­bare optimale Halt­barkeit, und hoch­auf­lösender, in sowohl der Dis­kreti­sierung des Kontinuums als auch der Breite des künst­lichen Sen­sori­ums, auf­ge­nommen wird, desto stabil­er und größer werden die ge­grabenen Löcher; desto mehr un­ge­nutzte Momentan­macht wird den Kommenden zur Ver­fügung gestellt. Doch auch wenn der Ein­sturz der Löcher fortan un­möglicher gemacht wird, scheint die Ver­fügbar­keit in nutzbarem Ausmaß ab­zu­nehmen: Loch­mogule schützen bereits heute ihren Schatz des Ge­sche­henen zur Selbst­durch­wühlung und publi­zieren wenn über­haupt nur bruch­teil­haft.

~

Das Abbild des Meta­phy­sischen der Dichter und Denker ver­gang­ener Jahr­tausende wird ver­drängt durch das Ab­bild des Phy­sischen detail­getreuer Maler und Foto­grafen ver­gangener Jahr­hunderte, welches selbst binnen letzter Jahr­zehnte durch ein un­verfrem­detes Ab­bild des Mesa­phy­sischen konstru­ierter Wesen er­setzt wird.
In diesem un­auf­halt­sam scheinenden rei­ßenden Strom der Gier nach Halt verliert sich das präsent-existente Indi­viduum in einer anonymen Essenz­suppe seiner Spe­zies.

~

N.B.: Dem Leser mag die ge­schmack­lose Dis­kre­panz zwischen dem be­schrie­benen Horror und der ge­wählten Dar­stellung in der schaelpic photokunstbar auf­ge­fallen sein. Diesem Be­sorg­nis habe ich bis­weilen nichts ent­gegen­zu­wenden; eine Absolu­tion findet er bei dem selbst Suchen­den nicht. Zwar treibt mich selbst die Ver­sumpf­ung des Geistes durch die immer­währende Prä­senz der Bits bis­weilen in wahne Höhen, doch ist der Ver­breitungs­effekti­vität, welche hier erreicht wird, analog mit ver­tret­barem Auf­wand und der zu er­war­tenden Bereit­willig­keit eines Publi­kums schwer zu über­bieten.
En plus, als Agent provocateur stifte ich ihn un­über­legt dazu an, zu tun, was ich für fatal halte -- für mich sowie ihn.